Es war ein Erdbeben – Peer Steinbrück über die Finanzkrise 2008

Ex-Finanzminister Peer Steinbrück über die dramatischen Tage der Finanzkrise, seine Konflikte mit Josef Ackermann und Wolfgang Schäuble – und warum das Frankfurter Stadion eigentlich „Steinbrück-Arena“ heißen müsste.

Peer Steinbrück

SPIEGEL: Herr Steinbrück, wie kommt es eigentlich, dass die Finanzmärkte noch nicht kollabiert sind, obwohl Sie nicht mehr Finanzminister sind?

Steinbrück: Die Frage zielt auf meine Eitelkeit. Deshalb antworte ich lieber nicht darauf.

SPIEGEL: Hat es Ihnen dennoch gefallen, dass viele Sie für den Retter der deutschen Wirtschaft halten?

Steinbrück: Das ist mir zu groß. Ich habe meinen Beitrag zur Bewältigung der Finanzkrise geleistet. Dabei wurden mir Eigenschaften zugeschrieben, die mich ehren – mehr nicht.

SPIEGEL: Ist das Schlimmste überstanden?

Steinbrück: Das weiß niemand. Es bestehen weiterhin tiefgreifende strukturelle Ungleichgewichte – zwischen den USA und China, aber auch innerhalb Europas. Wir sind bei der Regulierung der Finanzmärkte weitergekommen, aber längst nicht am Ziel. Die entscheidende Frage bleibt: Wer hat das Primat – die Politik oder die Finanzindustrie?

Die Welt stand am Abgrund

SPIEGEL: Wie knapp war es 2008? Wie nah stand die Welt am Finanzkollaps?

Steinbrück: Als Lehman Brothers am 15. September 2008 zusammenbrach und AIG kurz vor dem Aus stand, war das ein Schlüsselmoment. Wäre AIG gefallen, hätte der Finanzsektor einen Schmelzpunkt erreicht. Die Welt stand tatsächlich am Abgrund.

SPIEGEL: Waren Sie mit dieser Einschätzung allein?

Steinbrück: Nein. Das war Konsens unter meinen europäischen Kollegen – Lagarde, Darling, Bos, und auch Trichet und Weber. Wir haben in einer konzertierten Telefonaktion versucht, US-Finanzminister Paulson klarzumachen, dass ein zweiter Lehman-Fall unbedingt verhindert werden müsse.

SPIEGEL: War Paulson einsichtig?

Steinbrück: Öffentlich hat er das nie eingeräumt. Aber es gibt Anzeichen, dass die USA die Folgen der Lehman-Pleite massiv unterschätzt haben. Sie rechneten nicht mit der globalen Erschütterung.

Die Garantie war ohne rechtliche Grundlage

SPIEGEL: Nach Lehman brach das Vertrauen in die Banken zusammen. Fürchteten Sie einen Kollaps des Zahlungsverkehrs?

Steinbrück: Ja. Es herrschte Verunsicherung. Menschen begannen, ihre Ersparnisse abzuheben – das gefährdete die Liquidität der Banken und setzte einen Teufelskreis in Gang. Deshalb haben Kanzlerin Merkel und ich die Garantie aller Spareinlagen ausgesprochen. Die Wirkung war entscheidend.

SPIEGEL: Was wäre passiert, wenn das nicht funktioniert hätte?

Steinbrück: Dann hätten wir gezahlt. Der Bundestag hätte die Mittel bewilligen müssen. Hätten wir unser Versprechen nicht gehalten, wäre Chaos ausgebrochen.

SPIEGEL: Merkel wollte die Garantie zunächst allein abgeben?

Steinbrück: Ja, aber Regierungssprecher Wilhelm überzeugte sie, mich miteinzubeziehen. Innerhalb weniger Minuten war klar: Wir treten gemeinsam auf.

SPIEGEL: War Ihnen bewusst, dass diese Zusage keine rechtliche Grundlage hatte?

Steinbrück: Natürlich. Wir bewegten uns auf dünnem Eis. Ich wundere mich bis heute, dass das Parlament uns später nicht zur Rede stellte.

Dankbarkeit? Höchstens Anerkennung

SPIEGEL: Haben sich Banker für die staatliche Hilfe bedankt?

Steinbrück: Nein. Es gab allenfalls Anerkennung. Viele Banker mussten sich plötzlich auf den Staat verlassen – den sie zuvor möglichst auf Distanz halten wollten.

SPIEGEL: Josef Ackermann spielte dabei eine besondere Rolle?

Steinbrück: Er war kompetent und hat beim Finanzmarktstabilisierungsgesetz mitgewirkt. Gleichzeitig hat er später verkündet, dass er sich für die Deutsche Bank schämen würde, wenn sie staatliche Hilfe in Anspruch nähme. Das hat Merkel und mich geärgert.

SPIEGEL: Großbritannien zwang Banken zur Annahme von Hilfen. Wäre das in Deutschland besser gewesen?

Steinbrück: Ich hielt eine Zwangslösung für falsch. Einige Banken hätten davon profitiert, obwohl sie das Geld nicht brauchten. Aber Ackermanns Haltung hat den Zusammenhalt der Branche geschwächt.

Ich habe an Rücktritt gedacht

SPIEGEL: Ihre Auseinandersetzung mit Schäuble wegen der Hypo Real Estate war heftig?

Steinbrück: Ja. Schäuble war gegen die Enteignung. Aber der Staat hatte HRE Milliarden-Garantien gewährt – bei einer lächerlichen Marktkapitalisierung. Ich hielt die Verstaatlichung für unausweichlich. Ohne das Gesetz hätte ich über einen Rücktritt nachgedacht.

SPIEGEL: Haben Sie das Merkel gesagt?

Steinbrück: Nein. Solche Dinge kokettiert man nicht.

Der Euro ist eine Schicksalsfrage

SPIEGEL: Nach Ihrem Amtsende stand Griechenland vor dem Staatsbankrott. War der Euro in Gefahr?

Steinbrück: Nein, aber ein Zerbrechen hätte Europa um 20 Jahre zurückgeworfen. Deutschland profitiert enorm von der Euro-Zone.

SPIEGEL: Hat die Regierung in der Krise richtig gehandelt?

Steinbrück: Nein. Sie hat nicht klar kommuniziert, dass der Euro ein politisches Projekt ist. Merkel wollte Stimmungen für die NRW-Wahl nutzen. Das schadete Deutschlands Ansehen.

SPIEGEL: Reichen die Hilfen für Griechenland aus?

Steinbrück: Nein. Die Schuldenquote steigt weiter. Griechenland wird um einen Schuldenschnitt nicht herumkommen – über Laufzeitverlängerungen, Zinserlass oder „Haircut“. Alles andere verschleppt das Problem und belastet die Steuerzahler unnötig.

Die Griechenland-Krise war ein politisches Versagen

SPIEGEL: Trifft die Finanzindustrie die Schuld an der Euro-Krise?

Steinbrück: Nein. Die Verantwortung liegt bei den Regierungen – durch übermäßige Verschuldung und mangelnde Kontrolle. Ich nehme mich da nicht aus.

SPIEGEL: War die deutsche Reaktion auf Griechenland zu lax?

Steinbrück: Die Diplomatie bremst Konfrontationen. Aber künftig brauchen wir Sanktionsmechanismen im Stabilitätspakt, um solche Entwicklungen früh zu stoppen.

Die SPD hat sich für ihre Erfolge geschämt

SPIEGEL: Ist das deutsche Sozialstaatsmodell besser als sein Ruf?

Steinbrück: Ja. Es hat sich als stabilisierend erwiesen. In der Krise hat es Menschen vor existenziellen Nöten bewahrt.

SPIEGEL: Viele in der SPD sehen das anders.

Steinbrück: Der Sozialstaat wird von Maximalisten wie Minimalisten bedroht – von denen, die ihn immer weiter ausbauen wollen, und denen, die ihn abschaffen wollen.

SPIEGEL: Ist Parteichef Gabriel ein Maximalist?

Steinbrück: Bei der Rente mit 67 ist er auf einem problematischen Weg. Wir leben länger, arbeiten aber kürzer – das geht rechnerisch nicht auf.

Ich halte Sarrazin in der SPD für tragbar

SPIEGEL: Sollte Thilo Sarrazin aus der SPD ausgeschlossen werden?

Steinbrück: Ich würde ihn halten. Seine Thesen zur Integration sind provozierend und oft unsinnig – insbesondere in ihrer biologischen Ausprägung. Aber Integration gelingt nicht, indem man missliebige Meinungen unterdrückt.

Eine Kanzlerkandidatur ist sehr unwahrscheinlich

SPIEGEL: Wären Sie 2013 bereit, als Kanzlerkandidat anzutreten?

Steinbrück: Ich habe nach der Wahl 2009 gesagt: Das war’s. Ich gebe gern Ratschläge, aber strebe keine Führungsposition mehr an.

SPIEGEL: Sie hätten aber das Profil dafür – wie Brandt, Schmidt oder Schröder.

Steinbrück: Diese drei gerieten mit der eigenen Partei in Konflikt – bei mir wäre das vermutlich schon vor der Wahl der Fall. Ich halte es für äußerst unwahrscheinlich, dass sich diese Frage stellt.

SPIEGEL: Herr Steinbrück, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.